Sie beruht auf Anwendung von Wissen! Denn Bildung ist ein teures Gut. Dieser Schatz lebt von Weiterbilden, Erkenntnisse sammeln und deren Anwendung. Man nennt es auch „Über den Tellerrand in die Zukunft schauen“. Innovatives Fortschrittsdenken scheint den Herstellern von Medizin-Technik jedoch abhandengekommen. Wir befinden uns im Digitalen Zeitalter, also jetzt, an einem Punkt, an dem alle Behinderungen mit Leichtigkeit kompensiert werden können und das ohne zusätzliche Kosten. Die Barrierefreiheit ist seit 2009 sogar Gesetz in Deutschland, aber noch gibt es keine Konsequenzen. Wir als Kunden und Anwender, bereiten in dieser Hinsicht Schritte vor, doch dazu später im Artikel.
Um welches Wissen, Technik und Möglichkeiten geht es? Und wieso habe ich dieses Wissen und nicht die Industrie?
Liegt es daran, dass ich nicht nur Berufserfahrung in der Diabetologie erworben habe, sondern auch im Leben, da ich im Alter von 14 Monaten mein erstes Insulin gespritzt bekommen habe? Vor über 40 Jahren verlor ich mein Augenlicht und trage seitdem 2 Glasaugen. Diese Augen sehen sehr gut aus, das erleichtert dem Sehenden die „Face to Face“ Kommunikation mit mir, aber trotzdem bin ich blind, nicht nur gesetzlich blind. Seit 1985 benutze ich eigenständig Insulinpumpen, seit 2015 dann ein CGM-System (zunächst Dexcom G5, dann G6), beides unter iOS. Im August 2021 bin ich auf das Android-APS Loop-System gegangen und dort seit 2022 Mitglied im Entwicklerteam. Wie kann das blind funktionieren?
Technologie und vor allem die Digitalisierung räumt uns blinden Menschen die Barrieren aus dem Weg. Das hat schon mit der Internetnutzung und unter DOS angefangen und wurde mit Windows komfortabel. Mit der Kombination „Windows-Taste + Control-Taste“ plus Enter-Taste drücken steht der Screenreader „Narrator“ zur Verfügung. Heutige Smartphones haben alle einen Screenreader an Bord (bei iOS ist es VoiceOver und bei Android TalkBack) und bieten uneingeschränkte Unterstützung. So wird einem Menschen mit Seheinschränkung nicht nur ermöglicht, ein Smartphone genauso zu nutzen wie ein Sehender, es gibt noch weitere Besonderheiten, die das Sehen teilweise ersetzen. Der QR-Scanner signalisiert die Erfassung des Kodes und öffnet die hinterlegten Informationen. Optical Character Recognition (OCR, Optische Zeichenerkennung) und Texterkennung, eine Technologie, die die Umwandlung unterschiedlicher Dokumente, wie beispielsweise gescannter Papierdokumente, PDF-Dateien oder Digitalbilder in bearbeitbare und durchsuchbare Dateien macht, ermöglichen dem Screenreader mit seiner Text-to-Speech Funktion den Zugriff darauf.
Android und iOS verlangen von den Programmierern, dass sie bei der Erstellung ihrer Apps die grundlegenden Standards/Basics der Betriebssysteme einhalten. Das haben die Programmierer bei den Apps von Dexcom G5/G6 auch gemacht, was bedeutet, dass der seheingeschränkte Mensch mit Diabetes nicht nur den aktuellen Wert erfährt. Er kann auch den Sensor selbstständig wechseln bzw. den Transmitter austauschen, seine Alarme einstellen oder die Zielwerte, wie den Time in Range (TIR), durchforsten. Die Erfassung der Ziffern des Sensorcodes gelingt leicht mit Seeing AI (Microsoft Corporation) oder Lookout (Google), das sind sprechende Kamera-Apps für Sehbehinderte. Dies gelingt sogar durch die geschlossene Sensorverpackung, denn den winzigen QR-Kode beim Sensor anzuvisieren ist ein Glücksspiel.
Mit der App Meala führe ich nicht nur mein Diabetestagebuch, auch die CGM-, Schlaf- und Aktivitäts-Daten werden automatisch hinzugefügt. Beim Abfotografieren der Mahlzeiten werde ich durch Meala in der Kameraführung unterstützt und erhalte eine fundierte Gesprächsgrundlage für mein Diabetesteam über das, was ich gegessen habe. Der Blutzuckerverlauf (Diagramme) des Essens werden mir akustisch gespiegelt. Einmal kurz hinhören, also „einen Blick“ drauf werfen und ich erkenne den gesamten Verlauf und kann meine Therapieentscheidung beurteilen. Ich habe damit genauso viele oder wenig Probleme wie ein sehender Diabetiker. Wir können durch die Digitalisierung eben auch Loopen, Schritte zählen, Mails schreiben und vieles mehr. VoiceOver ist der Guide, der mich durch den Dschungel der Dunkelheit auf dem digitalen Weg begleitet, während Siri ein dummer Diener ist, der nur das macht, was ich ihm vorher beibringe.
Ein großes Problem ist die haptische Gestaltung der Hardwareprodukte. Ihre taktile und/oder akustische Erfassung des einzustellenden Zustandes werden von den Designern nicht beachtet. Insulin-Pens funktionieren nach dem Prinzip „sehen – hören – fühlen“ und haben eine Endabschaltung, wenn die Insulinmenge verbraucht ist. Bei einigen digitalen Pens verzichtet man bereits auf „hören und fühlen“ und der Endabschaltung, da man ja alles auf dem Pen-Display sehen kann. In der Vergangenheit ermöglichten die Firmen Eli Lilly, Travenol, Hoechst, Sartorius, Deltec und Roche Blinden die Benutzung ihrer Insulinpumpen durch ausgeklügelte taktile Möglichkeiten und akustische Signale. Nun sind die letzten nutzbaren Pumpen für Blinde und Sehbehinderte, die Combo und die Insight von Roche seit Ostern 2022 nicht mehr verfügbar.
Wie sieht es bei den käuflichen AID-Systemen aus?
- Roche Diabetes Care ist vor Ostern neu mit DBLG1 (Insight/Diabeloop), ins Hilfsmittelverzeichnis aufgenommen worden. Sehr schön, aber leider gibt es die Hardware nicht mehr.
- Diabeloop hat als Betriebssystem Android. Da man durch den in Android verankerten Screenreader TalkBack leicht die Schwächen in der Programmierarbeit mitbekommt, hat man TalkBack komplett gesperrt – oder warum sonst sollte man auf das Prädikat „Barrierefrei“ verzichten?
- Medtronic ist im Hilfsmittelverzeichnis, aber absolut nicht barrierefrei.
- Ypsomed mit Cam APS FX ist zwar noch nicht im Hilfsmittelverzeichnis drin, aber auf dem besten Weg dahin. Hierzu ein Auszug aus der DIA-AID live-Veranstaltung.
- „Allerdings – und das gehört seit Beginn der DIA-AID live-Veranstaltungen unbedingt dazu – wurde auch Kritik an den Medizintechnik-Herstellern geäußert. Ganz konkret betraf das im Fall von Ypsomed die mangelnde Barrierefreiheit: So praktisch Touchscreens für viele Menschen auch sind, blinde und sehbehinderte Personen haben hier große Schwierigkeiten oder die Bedienung wird ihnen gar unmöglich.
Deutlich machte dies unter anderem ein Teilnehmer aus der Schweiz. Dessen neunjährige Tochter ist Typ-1-Diabetikerin – er selbst ist blind. Schon mehrfach, so berichtete der Vater, habe er bei Ypsomed auf eine barrierefreie Bedienbarkeit gedrängt, passiert sei trotz verschiedener Versprechen aber nichts. Die YpsoPump sei ja grundsätzlich gut, aber in Sachen Bedienbarkeit werde einfach viel Potential verschenkt.“
- „Allerdings – und das gehört seit Beginn der DIA-AID live-Veranstaltungen unbedingt dazu – wurde auch Kritik an den Medizintechnik-Herstellern geäußert. Ganz konkret betraf das im Fall von Ypsomed die mangelnde Barrierefreiheit: So praktisch Touchscreens für viele Menschen auch sind, blinde und sehbehinderte Personen haben hier große Schwierigkeiten oder die Bedienung wird ihnen gar unmöglich.
- Cam APS FX habe ich mir angesehen. Es gibt viele Problemstellen in der App, aber leicht zu beheben. Mit TalkBack bekommt man vieles mit!
- Insulet: Welchen Algorithmus wird der Omnipod 5 erhalten, wie ist seine haptische Barrierefreiheit? Bisher ungewiss!
- Die t:slim X2™ Insulinpumpe mit Control-IQ Technologie, absolut nicht barrierefrei. Die Bedienung der Hardware (Touchscreen) könnte durch Umprogrammierung barrierefrei werden. Die technische Konstruktion, Aluminium im Body schirmt Bluetooth-Signale ab, verhindert Nutzertauglichkeit. Besonders nachts erfolgen Alarme wegen Signalverlust zum Dexcom-Transmitter.
- Die Sigi-Pump: Vom Hersteller habe ich ein Danke für meine Fragen erhalten und ich könne die Fortschritte auf der Webseite verfolgen. Und dann ist wieder alles zu spät…
Gespräche sind genug geführt worden, hier ein Beispiel von Ende der 1990 Jahre: Blinde Diabetiker hatten alle insulinproduzierenden Firmen eingeladen, um gemeinsam eine Möglichkeit zur optischen und taktilen Markierung zur Unterscheidung der Insulin-Umverpackungen zu finden. Lilly hat umgehend Prototypen für seine Insuline durch entsprechend verschiedenfarbige Klebe-Etiketten mit Groß- und Punktschrift erstellt. Nachdem alle Beteiligten dieser Umsetzung zugestimmt hatten, kam das Stopp aus einer Rechtsabteilung mit der Begründung: Der Apotheker könne beim Kleben die Verpackung verwechseln!
Damals hat der Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV) die Notwendigkeit der Unterscheidbarkeit für alle Medikamente gesehen und mit der EU-Blindenunion diese Kennzeichnung durchgesetzt. Und auch jetzt hat der DBSV wieder die lebensbedrohende Problematik erkannt und bereitet weitergehende Schritte vor. Unser Faktenblatt dazu: Die therapeutische Versorgung von Menschen mit Diabetes mellitus und Seheinschränkung: Stand und Handlungsbedarf ..Faktenblatt Diabetes 2022_03_30
Diana Droßel,
Diabetesberaterin und Ansprechpartnerin für Menschen mit Diabetes und Augenproblemen des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e.V.
DiaTec weekly – April 29, 22
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